
Titel: Schwebende Sekunden
Die Uhr tickte unaufhörlich. In dem kleinen Café an der Ecke, umgeben von einer urbanen Hektik, hockte Lena mit einem dampfenden Cappuccino vor sich, das Handy in der Hand. Ihre Gedanken kreisten um das bevorstehende Vorstellungsgespräch – das, in dem alles anders werden sollte. Ihre Finger rutschten über den Touchscreen, als wäre die Zeit ein kostbares Gut, das sie festhalten wollte.
Es war ein warmes, sonniges Frühjahrsmorgen, die Luft voller Möglichkeiten und frischem Duft von blühenden Bäumen. Doch Lena fühlte sich, als würde sie in einer perfekt inszenierten Theateraufführung stehen, unfähig, ihre Rolle zu finden. Sie war eine leidenschaftliche Grafikdesignerin, die Träume in Bilder verwandelte, doch der Druck, den sie sich selbst machte, ließ sie innerlich züngeln wie ein gefangener Schmetterling.
Plötzlich vibrierte das Handy – eine Nachricht von ihrem besten Freund Max, der schon lange wusste, wie sehr sie aufgeregt war. Der Text erschien auf dem Bildschirm: „Denke daran, das Wichtigste sind die schwebenden Sekunden!“
Lena verzog das Gesicht, während sie die Worte las. Was meinte Max mit „schwebenden Sekunden“? Was war der Sinn dieser melancholischen Phrase, die so verloren klang in ihrem hektischen Leben? Sie verbannte den Gedanken und gab sich dem Koffein hin, um ihren aufkommenden Stress zu vertreiben. Während sie trank, bemerkte sie am Fenster eine Gruppe von Menschen, die draußen lachten, ohne jeden Anschein von Sorgen. Die Sekunden schienen für sie zu schweben – jeder Augenblick war eine Einladung, die sie mit Leichtigkeit annahmen.
Vielsagend blickte sie auf die Uhr an ihrem Handgelenk: Noch 20 Minuten bis zu ihrem großen Auftritt. Ein erdrückendes Gefühl der Beklemmung überkam sie und sie lehnte sich zurück, um frische Luft zu schnappen. Da sah sie ihn – einen alten Mann, der auf der anderen Straßenseite saß. Er war in einen langen, schmutzigen Mantel gehüllt und trug eine Pièce de Résistance eines schwarzen Hutes. Seine Augen blitzten vor Weisheit und Schalk, während er einen Keks kaute.
In einem impulsiven Moment stand Lena auf und ging hinüber. Neben ihm nahm sie Platz. „Entschuldigen Sie, Sir. Was denken Sie über die schwebenden Sekunden?“
Er sah sie an, als könnte er in ihre Seele blicken. „Schwebende Sekunden sind das, was zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt. Man könnte sagen, sie sind das Jetzt – der Moment, in dem wir die Entscheidung treffen können, wie wir leben wollen.“ Seine Stimme war sanft, aber kraftvoll, wie die Berührung von warmem Wasser an einem kalten Tag.
Lena hörte aufmerksam zu, als er weitersprach. „Die Welt da draußen kann dich ablenken, gefangen in deinem Kopf. Aber wahrhaftig zu leben bedeutet, sich in diesen schwebenden Sekunden zu verankern. Das ist der Schlüssel zur Freiheit.“
Diese Worte hallten in ihrem Inneren nach, während sie zurück in ihr Café ging. Max’ Nachricht hatte nun einen neuen Klang und die Sekunden schienen nicht mehr quälend, sondern voller Möglichkeiten und Raum für Veränderung. Doch ein Schauer lief über ihren Rücken, als sie die Zeit über den Tisch gleiten sah. Während sie auf die Uhr blickte, schwand das Gespür für die Augenblicke, und der Wind der Aufregung verwandelte sich in das Gefühl von Unruhe.
Der Telefonanruf kam abrupt. Ihre Herzfrequenz erhöhte sich, und sie griff nach dem Handy. Es war die Personalabteilung. „Wir haben Ihr Interview kürzlich abgeschlossen“, sagte die Stimme am anderen Ende, und sie hielt kurz inne, gefangen zwischen den Sekunden. Herzklopfen. Spannung. Hoffnung und Angst flirteten mit ihrer Seele.
„Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass wir uns für einen anderen Kandidaten entschieden haben.“
Wie ein lautes Geräusch in einer stillen Bibliothek erinnerten ihre Gedanken an den alten Mann – diese schwebenden Sekunden. Das Gefühl von Verzweiflung breitete sich kurzzeitig in ihr aus, doch sie atmete tief ein. Was war dieser Verlust anderes als ein Raum für neue Möglichkeiten?
Lena schloss die Augen für einen Moment. Ein Gedanke blitze auf: Es war nicht das Ende, sondern ein Anfang. Sie dachte an all die Verpflichtungen, die sie bisher eingehen wollte, an die verschollenen Träume im Beruf des Grafikdesigners, an das, was sie wirklich wollte. Und wieder spürte sie die Kraft der schwebenden Sekunden – Momente der Unendlichkeit, in denen sie die Richtung ihres Lebens bestimmen konnte.
Mit einem Lächeln auf den Lippen und neuem Mut schloss sie das Gespräch ab und beschloss, an die Kunstschule zurückzukehren. Es war an der Zeit, ihr Leben zu überdenken und zu umarmen, was war und das, was vielleicht kommen könnte. In den schwebenden Sekunden entdeckte sie die Freiheit, die sie brauchte.